Sonntag, 25. Oktober 2009

Politische Schönheit oder Reisende darf man nicht aufhalten

Hören Sie das? Das ist die schweigende Mehrheit. Das sehen Sie überall. Wie jede Stadt neben einer typischen Architektur sich immer wieder Schicht für Schicht nach oben neu erfunden hat, so hat sie aber auch eine geradezu tektonische Geräuschkulisse und ein bisweilen erschütterndes Stimmengewirr aus längst vergangenen Epochen, das wie unsichtbarer Plüsch die Auslegware der Gegenwart garniert.

So hat jede Stadt ihre eigene Geräusch- und Klangbiografie. Der rhythmische Schlag des mittelalterlichen Schmiedes, den leidenschaftlichen, samtenen Flüsterton, mit dem Prinz Louis Ferdinand von Preußen Henriette Hertz bezirzte, ein sonores, hintergründiges Zischeln eines Tagelöhners im Scheunenviertel, der im Wind sich wiegende Schilf in Kladow, die Ätherstimme von Joseph Goebbels im Sportpalast, die schrillen Kurvenpfiffe beim Sechs-Tage-Rennen oder die junge, schöne Frau, die mit einem schier lautlosen Wimpernschlag, der doch eine kleine Ewigkeitsstille in den Rauchschwaden des „Diener“ in der Grolmannstraße hinterließ und dabei mit offenem Lebensblick mit wenigen Worten beschrieb, wie früher ihr Papi abends noch in ihr Kinderzimmer kam, um ihr erst galant die Hand und dann die Wange voll väterlichem Stolz und sanfter Hingabe zu küssen, so, als sei es ein Segen, der hielt, was er versprach: den engelgleichen Kindertraum, der Trolle und Alben nicht kennt, oder die belanglos synthetische Stimme des Navigationsgeräts, das einen mit seinem Kunstcharme in die übernächste Einbahnstraße lockt – das alles hat mehr in den Vorstellung eigene Spuren hinterlassen, als es jetmögliche Wirklichkeit vermag.

In Berlin wirkt diese empfundene und oft erfundene Geräuschkulisse allerdings bisweilen mehr eine ungeheure, gesammelte Kakophonie, fern von nervös kitzelnder Gedankenoper oder gedachter Symphonie. Vielmehr ist es eine innere, windige Partitur des Alltags und vielleicht auch des verborgenen Abgrunds, über den man glaubt, viel zu oft schreiten zu müssen.

Was längst der Erinnerung entschwunden ist, kann auf gut Glück noch im Kollektivgedächtnis der Tonträger als ein bestimmter Tonfall und seine eigentümliche Betonung wiedergefunden werden. Ja, es trifft zu, was Gottfried Benn 1931 auch über diesen unerhörten Zug der Vergänglichkeit dichtete:

„Lebe wohl,
far well,
und nevermore -:
aller Sprachen Schmerz- und Schattenlaut
sind dem Herzen,
sind dem Ohre
unaufhörlich
tief vertraut“,

Doch in diesen hörbaren Momentaufnahmen waren auch immer tatsächlich die Augenblicke zuhause, die im Grunde stets übersehen und erst in einem nachträglichen Empfinden und am Ende vielleicht sogar als Gegenwart selbst erkannt wurden, von der nicht wenige Denker allzu gern behaupten, sie fände ohnehin nur in der Erinnerung statt.

Allein Gedichte haben die andere Möglichkeit, der im wahrsten Sinne des Wortes mit einer sicheren Verlautbarung genau den instinktiven Reiz zu bestimmen, selbständige Tonträger in einem Sound zu sein, nicht in dem etwas ausgesprochen würde, sondern als Atmosphäre und expressives Dickicht vollendet formuliert zu sein – das sogar undeklamiert einen eigenen Ton hat.

So ist eben manche Lyrik das Geräusch des „Kairos“, das in der griechischen Philosophie den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung beschreibt, den Augenblick, der über Glauben und Unglauben entscheidet, oder, wie die Redensart will, man selbst nicht mehr die Gelegenheit beim Schopfe packen kann, die alles ändern könnte, sondern man in eine Richtung gestoßen wird, die alles anders werden lässt. So sind die Oden, von denen Horaz sagte, zumindest mit seinen habe er ein Denkmal errichtet, das dauerhafter als Erz sei, die Gegenwart wird zur denkbaren Unendlichkeit – so dass Hölderlin in seiner großen, schon ganz seiner Verlassenheit geschuldeten Hymne „Andenken“ in der Schlusszeile trotzig gegen allen Unbill und perfiden Gemeinsinn, kleinlich aufgebürdeter Ordnung und wohlmeinender, abgestumpfter Staatsräson behaupten konnte: „Was bleibet aber, stiften die Dichter!“

Es sind die Dichter, die sich laut machen gegen die schweigende Mehrheit. Mehr als jede andere Kunstform suchen sie den großen Auftritt im kleinsten Winkel, setzen Worte in die Welt, die kaum mehr wahrgenommen werden. So bewahrheitet sich der Satz von Hans Magnus Enzensberger, dass Deutschland ein Land sei, in dem mehr Gedichte geschrieben als gelesen würden. Die Politik hält nichts von den Lyrikern. Anders als in Amerika. Zur Amtseinführung von John F. Kennedy deklamierte der große, damals schon greise Robert Frost ein Gedicht und macht das Weiße Haus einmal mehr zum Camelot:

The land was our before we were the land's.She was our land more than a hundred yearsBefore we were her people. She was oursIn Massachusetts, in Virginia,But we were England's, Still colonials,Possessing what we still were unpossessed by,Possessed by what we now no more possessed.Something we were withholding from our land of living,And forthwith found salvation in surrender.Such as we were we gave ourselves outright(The deed of gift was many deeds of war)To the land vaguely; realizing westward,But still unstoried, artless, unenhanced,Such as she was, such as she would become.

Einer der größten politischen, philosophischen Ideendenker der Vereinigten Staaten, Allan Bloom, schrieb in seinem Meisterwerk „Der Niedergang des amerikanischen Geistes“: „Der Student, der sich über die Idee mokierte, unter dem Fenster eines Mädchens Gitarre zu spielen, wird niemals vom Zauber der Liebe erfasst Poesie lesen oder schreiben. Sein defekter Eros kann seiner Seele keine Visionen des Schönen schenken, und sie wird unfertig und schlaff bleiben.“

Der Meisterpolitologe münzte diesen Satz aber auch raffiniert gegen jene Politikerkaste, die in ihrem Gruppendenken sich hermetisch vor der Welt verriegelt. Ja, der Dichter bleibt draußen und wird nicht einmal als Geräuschemacher oder als zarter Störenfried akzeptiert, man hat immer die schweigende Mehrheit im Auge. Liebe und Schönheit in einer Staatsästhetik, die sich dem Menschen als positives Bild vergewissert und sich nicht derart postuliert, ausschließlich für das Missverständnis der Kreatur ausgleichswirkende Mechanismen zu schaffen? Sie bleiben in der Politik immer draußen vor der Tür. Bis vor ein paar Monaten.

In Berlin hatte sich Sonderbares zugetragen. Und so wurde es auch behandelt. Das „Zentrum für politische Schönheit“ hatte unter seinem Initiator Philipp Ruch nach der Wahl zum Bundespräsidenten Horst Köhler das 1904 entstandene Gedicht „An die Schönheit“ über Megafon vorgetragen. Es stammte von dem elsässischen Dichter Ernst Stadler, ein Expressionist, der in den ersten Tagen des Ersten Weltkrieges fiel, und wirkt, bei allem expressivem Gefühlsausdruck, doch fast klassisch, und entgegen allen Expressionsten wie Stadler eine große Ausnahme: Er sehnte im Gegensatz zum Berliner Dichter Georg Heym, der 1912 beim Eislauf in die Havel einbrach und ertrank, nicht die Apokalypse herbei und hoffte „nicht wenigstens auf einen Krieg“, wie Heym in seinem Tagebuch notierte. Geradezu schwelgerisch betete Stadler den Augenblick an:

An die Schönheit

So sind wir deinen Wundern nachgegangen
wie Kinder· die vom Sonnenleuchten trunken·
ein Lächeln um den Mund· voll süßem Bangenund
ganz im Strudel goldnen Lichts versunken·
aus dämmergrauen Abendtoren liefen.
Fern ist im Rauch die große Stadt ertrunken·
kühl schauernd steigt die Nacht aus braunen Tiefen.
Nun legen zitternd sie die heißen Wangen
an feuchte Blätter· die von Dunkel triefen·
und ihre Hände tasten voll Verlangen
auf zu dem letzten Sommertagsgefunkel·
das hinter roten Wäldern hingegangen – –i
hr leises Weinen schwimmt und stirbt im Dunkel.


Obgleich mehr als hundert Jahre alt, durchaus in einem fast für unser Ohr entfernten Eichendorff-Ton voll simpler, nichts desto trotz in sinnlich starken Bildern gefasst, erregte das Gedicht, vorgetragen von der Kanzlerkandidatin der Aktion „Zentrum für politische Schönheit“, Nina van Bergen, Aufsehen und wurde für eine politische Kundgebung gehalten, so dass der Unruhestifter Ruch und alle an der Aktion beteiligten Künstler auf die Wache musste, wo seine Personalien festgestellt wurden. Ein paar Wochen später musste er beim Landeskriminalamt vorsprechen. „Poesie ist ein Rohstoff, der knapp werden kann“, erklärte er den etwas irritierten Beamten, die alles gewohnt waren, nur eines nicht: Selbst Kunst zu fördern. Mit ihrem Vernehmen gaben sie Stadlers Ode, fast 95 Jahre nach dem Tod des Dichters, einen neuen Sinn. Sie waren Teil einer Aktion, wieder einmal wurde Joseph Beuys posthum gewürdigt, denn er war es ja, der gesagt hatte, jeder Mensch sei ein Künstler. Ein Satz über den die Alltagssatiriker der 70er Jahre, Ordnungswächter, Lehrer und andere kleine Obrigkeiten, besonders hohngelächelt hatten. Auf die Frage, was denn das alles solle, antwortete Ruch den Fragestellern mit Verantwortung für Kunst und Moral: „Aktionskunst macht keinen Sinn, wenn man sie vorher anmelden muss.“ Und resümierte ironiefrei: „Deutschlands Rohstoff-Zukunft liegt in der Poesie.“

Intimsphäre als das letzte wahre Bildungsgut also, gegen Begriffsstutzigkeit und gegen das Lippenbekenntnis für eine „Bildungsrepublik Deutschland“, sondern für Prägung. Es ist ja nun wahrlich nichts Neues, dass der aufgeklärte Mensch kein Wissen möchte, sondern lieber gebildet sein. Kurz: Lieber einer Kultur zu entstammen, an der man leidet, sich abarbeitet, sich vollends erotisieren lässt, als aus einer wohltemperierten Kanüle eines Wissensklons abzustammen. Dass die Politik nicht gerade sauber mit der ein anderen Kunstaktion in einem Land umgeht, in dem sich Künstler zu besserwisserischen Hobbypolitikern aufschwingen, ist nun wirklich nicht neu. Johannes Rau, der spätere „Bruder Johannes“ und Bundespräsident, der auf seinem Grabstein den sakrosankten Spruch für die Ewigkeit meißeln ließ, „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth“, entließ als Kultusminister von Nordrhein-Westfalen Joseph Beuys sehr unheilig 1972 als Düsseldorfer Kunstprofessor. Die repräsentablen Räumlichkeiten im Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, tragen die Namen preußischer Herrscher.

Wenn Nächstenliebe nur irgendetwas mit Neugierde auf Kunst, mit diesem christlich-lebensfremden „Versöhnen statt Spalten“ zutun haben will, dann ist die Deklassierung von „Politischer Schönheit“ auf eine so peinliche Art im Grunde schon wieder hässlicher Staatsdadaismus. Dort wo Karikatur walten sollten, spricht der Staat ein ernstes Wörtchen mit. Nachhaltigkeit beginnt im Kopf, nicht beim Mülltrennen. Willkommen in der Berliner Republik. Was soll man dazu schon sagen? Tja: Das ist Berlin!
















Mittwoch, 2. September 2009

Eine Stimme verschwindet nicht

Manchmal verschlägt es einem den Atem, wenn man eine Stimme hört, die man zwar zum ersten Mal vernimmt, von der man aber guten Gewissens glauben muss, man habe sie immer schon gekannt und eben darum auch schon immer im Ohr gehabt. Nicht nur unter diesem Gesichtspunkt sind mir stets jene, die Stimmen hören, unter den üblichen Irren immer die liebsten gewesen. Immer wieder bin bei meinen Wienbesuchen damals sofort auf die Baumgartner Höhe gefahren, um dort in der Irrenanstalt Steinhof, den Irren zu lauschen, die gedankenverloren und schier teilnahmslos im knirschenden Kies ihre Runden drehten und immer wieder davon sprachen, sie würden Stimmen hören. Welche Stimmen es waren und was sie ihnen mitzuteilen hatten, sagten sie fast nie, doch ich, der Ohrenvoyeur, hatte meine helle Freude daran, mir vorzustellen, was sie wohl zu hören bekamen, denn immerhin waren ihre Gesichtszüge von geradezu beseelter Apathie.

Vielleicht hörten sie aus den Erinnerungen längst vergessene Stimmen sie ermahnen, sie mögen endlich die Schularbeiten machen oder aufstehen, wenn der Feldwebel die Stube betrete oder vielleicht gab ihnen auch ein göttliches Wesen weise Ratschläge, die, sie zu befolgen, die Anstalt natürlich hindern würde. Diese Stimmen hatten, wie ich zwangsläufig finden musste, eben die ganze Eindringlichkeit besessen, sich über alle Wirklichkeit hinaus Gehör zu verschaffen. Oder wie Ernst Herbeck, der schizophrene Dichter, der Jahrzehnte in Gugging, einer Nervenheilanstalt bei Wien, die unter ihrem Direktor Leo Navratil, Vater des berüchtigten Malers Walter Navratil, der, als er sich von seiner Freundin, der berühmten Wiener Galeristin Heike C., trennte, sie auf Leinwand als Schwein bannte, schrieb: „Ich über mich / wir zwei/ sind die einzigen/ die wirklich denken können.“

In dieser wahrhaften Lautmalerei befindet man sich selbst ausnahmslos, wenn man sich den Klangfarben, Lauten und nasalen Flüstereien großer Schauspieler ausgesetzt sieht, die, wie eben aus der Erinnerung wie zu einem geistig Abwesenden hochsteigen. Wie ein Stimmenarchiv wirken da Serien wie „Derrick“, „Der Alte“ und gerade „Der Kommissar“, in denen unvermutet Schauspieler erscheinen, die längst vergessen sind, deren Stimme aber noch schemenhaft erinnerlich ist. So wie in der Folge „Ende eines Humoristen“ (1972), in denen in einer eindringlichen Nebenrolle der damals 67jährige Alfred Balthoff auftaucht und dessen Stimme einem sich geradezu symphonisch ins Gedächtnis ziseliert, weil sie eben gleichzeitig auch die Synchronstimme von Edward G. Robinson, Goucho Marx, Claude Rains, Lous de Funès, Peter Lorre, Anthony Quinn und Fernandels ist. Das Gesicht ist nahezu unbekannt, obwohl er selbst in so fragwürdigen Gassenhauern wie „Schwarzer Stern in weißer Nacht“, „Gestehen Sie, Dr. Corda!“ oder später im Fernsehen in „Alle Reichtümer der Welt“ oder „Man spielt nicht mit der Liebe“ mitspielte. Tagelang bin ich mit Begeisterung für Balthoffs Stimme durch Berlin gegangen, dann schon wissend, das Balthoff selbst mit dieser Stadt eine infernalische Geschichte verbindet.

Er, der jüdische Schauspieler, der nach dem Krieg mit beliebten UFA-Stars Seite an Seite vor der Kamera stand, musste in der Nazizeit unter dem Namen Alfred Israel Berliner beim Jüdischen Kulturbund, der seine Verwaltung in der Mommsenstraße 56 hatte, Theater spielen. Dieser Zusammenschluss wurde von der Gestapo überwacht und seine Inszenierung von Reichskulturverwalter Hans Hinkel persönlich genehmigt. Der Kulturbund war eine von jüdischen Initiatoren ins Leben gerufene Selbsthilfeorganisation für vom Berufsverbot betroffene jüdische Künstler. Von den Behörden allerdings wurde er zur Kontrolle und Isolierung jüdischer Künstler benutzt. Nach der Zwangsschließung im August 1941 tauchte Balthoff in der Stadt unter und hielt sch fast vier Jahre versteckt. Natürlich wusste die Gestapo, dass in Berlin immer noch mehrere Tausend Juden untergetaucht waren. Systematisch wurde die Stadt durchkämmt. Balthoff überlebte. Über seine Gefühle, mit alten Nazis wieder auf die Bühne zu stehen, hat er sich öffentlich nie geäußert.

Daran habe ich denken müssen, als ich neulich durch Zufall vor einer Gedenkplatte stand, die an den Schlagerkomponisten Theo Balz erinnerte, der hier gewohnt hatte. Fassungslos las ich dort, dass Balz nur wenige Wochen nach seiner KZ-Haft den Schlager „Davon geht die Welt nicht unter“ für Zarah Leander schrieb. Ich dachte an Balthoffs Stimme, mir kam Zarah Leander in den Sinn und wie der komische Zufall sie beide in einem Gedanken in meinem Kopf miteinander verbunden hatte. Ich erinnerte mich an die Folge des „Kommissars“, in der Balthoff den Satz sagt, der ihm der ehemalige Waffen-SS-Offizier und wohl bedeutendeste TV-Drehbuchautor der 70er Jahre, Herbert Reinecker, in den Mund gelegt hatte: „Der Komödiant erstickt an seinem eigenen Gelächter.“ Ich erinnerte mich auch daran, dass ich einmal gelesen hatte, dass Reinecker ein Romanmanuskript im Ofen verbrennen musste, um im Winter 46/47 nicht zu erfrieren. Ich sah in den Himmel. Er war grau. Ich hatte nicht bemerkt, das neben mir ein älterer Mann gestanden hatte, er ebenfalls auf die Gedenkplatte gesehen hatte. Im Weggehen meinte er nur kopfschüttelnd und vor sich hinflüsternd, wohl, ob der Text realistisch oder zynisch formuliert sei: „Das ist Berlin!“




Donnerstag, 27. August 2009

A bedazzling obitiuary

In January this year, the obituary of Fred Gerstle appeared in the Berliner Morgenpost and the Tagesspiegel. Fred Gerstle had passed away at the age of 82 in the suburb of Lichterfelde. The hand-sized notice of death was imbued with the author's own character – leaving the readership with a hint of his personality. The obituary of Gerstle was signed with the star of David and it started with a quote from Martin Buber which seemed as if it was written doubtlessly for him. It read, 'there are people who suffer horrible adversity and who cannot explain what is in their heart. They walk around with heavy hearts but when their paths cross with a smiling face, they become encouraged by their joy.'

Gerstle continued to quote Buber's Mystical Wisdoms: Words of the Rabbi Nachman and thanked his friends and acquaintances with the words: 'and it is no small thing to enliven people'. He continues on to explain immediately, 'according to the Nuremburg Law, being a half-caste, I've always been a wanderer between Judaism and all the other religions. I was a cosmopolitan of faith, so to speak. Maybe he had rediscovered his faith, as he wrote, 'on many occasions in my life, being the only survivor, so many positive clusters of fate can't be all coincidence.' However, 'as last of his clan, it was his duty in his own name and the name of his ancestors to disband forever in the world.' It was his wish for peple to attend the ceremony in white. He wanted them to play Blues music and to recite Martin Buber at the grave. The obituary ended with on a spiritual note: 'those of you who visit the Gerstle family grave at slot K5 Herbert-Baum Street will find it a place of calm and harmony.'
I carried the clipping of the newspaper obituary with me for months. Yesterday, I was there. Gerstle was right. It is a place of calm and harmony. There the melancholy of the visitor yields a lush sense of contentment in the moment. Yes indeed, it is no small thing. Berlin has got a teeny new recreation area. But no one knows. For God's sake. One remains to say: 'Das ist Berlin'!

Montag, 24. August 2009

Onkel Dante

Wenn Ich tatsächlich ein Anderer ist, wie Rimbaud, siebzehnjährig, in einem Brief an Mallarmé behauptet, muss dann die Frage nicht erlaubt sein, wie der Andere mich dann nennt? Diese ins Absurde gehende Feststellung beschreibt ziemlich genau den auf jeden Fall aber irritierenden, gar irrealen Zustand, der sich einstellt, wenn man sich zu oft ausgestopfte Tiere immer wieder über einen längeren Zeitraum ansieht, gleich, ob in Landgasthäusern im sogenannten Jägerzimmer, in der guten Stube eines durch seine fragwürdigen Geschäfte zu Geld gekommen Unternehmers, der mit präpariertem Auerhahn, Gams oder grimmigem Keilerkopf Eindruck schinden will, oder aber in den Sammlungen kleinerer Heimat- oder bedeutender Naturwissenschaftlichen Museen, in den diese für die Ewigkeit in letzte Form gebrachten Geschöpfte der unterschiedlichsten Arten und Kontinente energisch und artfremd den Betrachter aus Vitrinen und Schaukästen betrachten.

So von diesen Glasaugen zwanghaft begutachtet versucht sich der Normalsterbliche aus der Konkurrenz präparierten Ex-Lebens schnellstmöglich zu verabschieden, in dem er beispielsweise unbeobachtet mit einem seiner Beine hinkt oder dem Arm rudert, um sich in der dieser grotesk spastischen Bewegung zu beweisen, er selbst habe eben die letzte Haltung als Pose noch nicht gefunden und müsse jetzt erst einmal weiter seine Faxen machen.

An diesen Gedanken habe ich mich immer wieder verschwendet, als ich mir, oft Stunden lang, den ausgestopften Tasmanischen Wolf im Berliner Naturkunde Museum ansah, fast anbetungswürdig, dieses seit mehr als siebzig Jahren ausgestorbene Tier, dessen letztes Exemplar in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1936 im Beaumaris Zoo von Hobart auf Tasmanien starb. Hinter dem eher dilettantischen unbeholfen präpariertem Torsi sieht der Besucher, auf einen Fernseher, in dem ein Stummfilm mit Aufnahmen dieses wahrhaft letzten Tieres gezeigt wird, und ich erinnerte mich bei diesen wirren, ja grüblerisch machenden Aufnahmen, die das Tier, das schon vor fünftausend Jahren von Aborigines an Felswände gezeichnet wurde, als ängstlichen, apathischen Genossen in manisch sozialisiertem Gehege mit Kunstfels und Maschendrahtzaun zeigen.

Immer schien es einen wenn überhaupt winzigen Freiraum in dieser Gefangenschaft für sich zu suchen, und ich erinnerte mich in diesem Momenten immer daran, dass mir der Schauspieler Klaus Herm im Literaturhaus in der Fasanenstraße einmal von seiner Marotte erzählte, er könne beim Spaziergang niemals die Fugen und Kanten zwischen den Platten auf dem Gehweg betreten und es würde dem völlig widerstreben, einen unbedachten Schritt außerhalb der Mitte der von ihm angepeilten Platte zu setzen, als sei es die offensichtliche Privatsphäre oder das Gedankengrundstück, fremde Revier oder Geheimterritorium eines Anderen. In den 70er Jahren, als er oft mit Samuel Beckett, der damals in Berlin einige seiner Stücke selbst inszenierte, und gerade zu Herm Zutrauen gefasst hatte und ihn „meinen deutschen Lieblingsschauspieler“ nannte, in der „Giraffe“ im Hansaviertel abends gern das ein oder andere Bier trank, bemerkte auch Beckett diesen bisweilen aberwitzigen Gang Herms, und auch Herm sah, wie amüsiert und gleichermaßen fasziniert Beckett ihm beim Gehen beobachtete. Herm fragte den irischen Dichter, ob es ihm nicht auch gegen den Strich ginge, auf Kanten und Fugen treten zu müssen, worauf Beckett sehr ernst gesagt habe: „Selbstverständlich.“

Diese Selbstverständlichkeit ist es, die ebenfalls das wechselseitige Verhältnis ausgestopftes Tier und Betrachter kennzeichnet: Das Tier hält uns zum Narren und wir haben es vorher zum Narren gemacht. Ein Voyeur betrachtet den zum Exhibitionisten Erklärten und ergötzt sich an dessen Blöße. Dass wir dem Ex-Leben die Vergänglichkeit genommen haben, erfreut und schaudert uns in einem Atemzug und verschlägt uns die Sprache, für diese komische Faszination auch noch die richtigen Worte zu finden.

Immer wieder versuchte man im neunzehnten Jahrhundert, dem Tier seine ursprüngliche Gestalt wieder zu geben, hatte oft nur unzureichende Zeichnungen eines mitreisenden Aquarellisten zu Händen, der sich oft mehr um die Ästhetik als die Natürlichkeit des erlegten Tieres kümmerte und die freie Wildbahn stets als Parcours seiner Wunschvorstellungen von romantischer Natur betrachtete und so zu Papier brachte. Was der Präparator dann nicht wusste, überließ er seiner Phantasie. Dass änderte sich erst vor hundert Jahren. Das ausgestopfte Tier bekam ein natürliches Vorleben und verlor seine bisweilen menschlichen, gar phantastischen Züge.

An all das habe ich denken müssen, als ich in München war und für kurze Zeit nicht mehr an den Tasmanischen Wolf dachte, mir beim Vinzenz Murr in der Theatinerstraße eine Käsekrainer kaufte, die man selbst in den feinsten Wiener Kreisen, die auch immer Wurstbudenfanatiker sind, „a Eitrige“ nennt, und so bin ich mit der Eitrigen in der einen und einem Prospekt zur Ausstellung „Eule und Mensch“ in der anderen Hand gemächlich zum Deutschen Jagd- und Fischereimuseum geschlendert, wo ich den ausgestopften Tiere doch wieder auf den Leim gegangen bin und mich maßlos faszinieren ließ, nicht ohne Schaudern, und wo mich rund eine halbe Stunde später Käuze und Uhus erwarteten, die einen in allen Schattierungen der menschlichen Charaktermöglichkeiten ansahen.

Ein Steinkauz hatte es mir besonders angetan, erkannte ich doch in jenem, wenn auch künstlichen Glasaugenblick, den menschlichen warmen Albert Niehörsters andererseits, der Jahrzehntelang ein berühmter Pförtner am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg gewesen war und selbst ein paar Mal als Charge auf der Bühne stand. Oft saß ich länger bei ihm und wir unterhielten uns, während ich auf eine Schauspielerin wartete, der ich seinerzeit sehr zugetan gewesen war.

Einmal, während ich über Wochen in Dantes „Göttliche Komödie“ vertieft gewesen bin und ich davon erzählte, wie sehr mich die Apokalypse immer mehr in ihren Bann zog, sagte Niehörster, dass er das gut verstehen könne. Als Hitlerjunge habe er beim Feuersturm auf Hamburg im Juli 1943 im Naturkundemuseum die immer wieder aufflackernden Brände mitlöschen müssen. Oft habe er mutterseelenallein in einem der Säle gestanden, nur einen kläglichen Wassereimer in Händen. Alles sei bis zur Unkenntlichkeit verkohlt gewesen. Die ausgestopften Tiere hätten noch geglüht und aus ihren geschwärzten Torsi hätten funkelnd die Glasaugen mit bösem, vorwurfsvollen Blick auf ihn gestarrt. Über Minute habe er sich nicht von der Stelle rühren können und sei schließlich von einem der Feuerwehrmänner ins Freie gestoßen worden. Diese Bilder hätten sich ihm eingeprägt wie apokalyptische Reiter, die, einmal erst gesehen, einem für alle Zeiten unvergesslich seien.

In den nächsten Wochen, während ich mit Dante durch die Hölle von Tor zur Tor ging, bat ich Niehörster immer wieder von den brennenden ausgestopften Tieren zu erzählen, während ich auf die Schauspielerin oft Stunden wartete. Wohl um mir eine Freude zu machen, schmückte er die Geschichten mit immer neuen Details aus. In meinen Gedanken nannte ich Niehörster einfach Onkel Dante, weil er eben so onkelhaft und überaus charmant erzählen konnte. Einmal fragte ich ihn, ob nicht eigentlich auch Schauspieler etwas von brennenden ausgestopften Tieren hätten. Nach einem kurzen Überlegen meinte er, dass da wohl etwas dran sei. Nur aber die größten seien es, die in der Momentaufnahme totaler Regungslosigkeit aus der Starre heraus lebendig würden und durch die Dunkelheit des Zuschauerraumes in ihrem geradezu glutvollen Erleben gewissermaßen funkeln würden.

Als ich vor ein paar Tagen wieder vor dem Tasmanischen Wolf stand, habe ich gedacht, wie schade es sei, dass weder Niehörster noch Beckett ihn gesehen hätten. Aber es sei ja wohl wie immer: im Kopf bringe man zusammen, was sich in der Wirklichkeit viel zu oft verpasse. In diesem Augenblick ahnte ich, dass Ich tatsächlich ein Anderer sein müsse, aber der Andere allen Ernstes immer auch Ich sei. Diesmal schenkte ich beim Hinausgehen den ausgestopften Tieren einen mitleidigen Blick und flüsterte kopfschüttelnd vor mich hin: Das ist Berlin!







Montag, 17. August 2009

Gebärdenerbe

Es gab mal eine Zeit, da war der Westen noch Kurfürstendamm und verhielt sich auch so. Sonntags im „Café Kranzler“ saßen noch bekannte Berliner Rechtsanwälte mit Damen, die nicht dem darstellenden, sondern eher dem vortäuschenden Gewerbe angehörten und ganz auf „Bel Ami“ machten, höchst elegant vergreiste Ladies, die hier alleine und mit dem allerletzten Rest eines Freundeskreis frühstückten, ein paar wenige Touristen und eine rothaarige Wahrsagerin, die stadtbekannt war und schon mehrere Fernsehauftritte hinter sich hatte, weil ihr zweites Gesicht in erster Linie für Rolf Eden und Ivan Rebroff in die Zukunft sah, die stets für Eden außerordentlich rosig war, zumindest, wenn dieser These seine publizierte Sexualität zugrunde liegt. Eine uralte nordfriesische Bäuerin antwortete einmal auf die Frage, wie sie es denn fände, das ihr um Jahre noch älterer Mann so gerne Liebesfilme sähe, in die Fernsehkamera des NDR: „Je oller der Bock, desto steifer sein Horn.“ Ähnliches gilt wohl auch für Rolf Big Eden, über den der TIP schon vor rund zwanzig Jahren mutmaßte, bei ihm würden „nur noch die Wilmersdorfer Witwen feucht“. Darf man seiner immer wieder gern veröffentlichten Selbstdarstellung glauben, sind es selbst heute noch die Küken, die auf dem Sprung zur Schauspielerin sind, die ihm Schritt auf Schritt folgen.

Damals saß ich fast jeden Sonntag im „Kranzler“ und studierte die Zeitungen. Den politischen Teil ließ ich außen vor. Man musste nur auf die Straße gehen und hatte eine Ahnung davon, dass hier die wahren Kommentare geschrieben wurden. Die Theater hinkten allerdings merkwürdig der Zeit hinterher. In dieser Zeit gab ich der Neigung nach, mich dann lieber doch theoretisch mit dem Theater zu beschäftigen und las Kroetz, Sperr, Beckett, Horvath, Strauß und Handke. Für das Frühstück brauchte ich immer zwei Tische. Auf dem einen lagen bis dreißig Bücher, auf dem anderen wurde ein leichtes, dennoch sättigendes französisches Frühstück serviert.
Selbst hier in Berlin machte ich die für mich über alle Maßen so wohltuende Erfahrung, die ich später vor allem noch in Wien machen sollte, dass die Kellnerinnen und Kellner der Geburtsjahrgänge vor 1930 von einer so ausgesuchten Höflichkeit und Rücksicht waren, mich dort nach meinem Gusto meine Dinge erledigen zu lassen. Einmal allerdings setzte sich eine bereits im Gehen begriffene Dame, die mindestens die zweite Hälfte der Achtziger überschritten hatte, an meinen Tisch, nahm sich einfach eines der Bücher und sah mich mit geradezu kindlicher Freude an. Begeistert erzählte sie von den 30er Jahren, von den Schauspielern Käthe Gold, Hans Brausewetter, Gustaf Gründgens und Bernhard Minetti, von Marianne Hoppe, Lola Müthel und Heinrich George. Selbst heute würde sie seinen Sohn Götz beobachten. „Ganz der Vater“, sagte sie, „bis in die kleinste Bewegung hinein ganz der Alte.“
Sie glaube ja sowieso, an das Gebärdenerbe. Jeder lebende Schauspieler habe seinen Vorgänger, jede Schauspielerin von Bedeutung habe ihre Vorgängerin, die sie vielleicht nie gekannt habe, aber dennoch das gleiche Repertoire an Mimik, Gestik und Gebärde habe, mit deren Vielfalt sie die Möglichkeiten einer Rolle ausstatten könne. Dann sah sie auf den Bücherberg und fragte mich mit beinahe kindlichem Ernst: „Nichts davon steht in Ihren Büchern, junger Mann, stimmt’s?“ Gerade wollte ich ihr Recht geben, da kam ein Mann aus dem hinteren Teil des „Kranzlers“ streng geschritten. „Mutter, komm, wir müssen gehen... .“ Die Antwort blieb ich ihr schuldig. Gern hätte ihr wider besseren Wissens gesagt, dass diese Erkenntnis die Theatergeschichte revolutionieren würde und sie nun eigentlich die Pflicht habe, diese sicher weltbewegende Tatsache, wenn schon nicht unters Volk so doch an den Mann zu bringen. So blieb ich bis heute mit dem Gedanken der alten Frau allein. Was soll ich sagen? So ist Berlin!

"Meine Mutter ist hier zu liegen gekommen"

In Berlin braucht man im Grunde keine Stadthistoriker. Jeder weiß alles. Und wenn der Berliner mal nicht weiter weiß, dann hat es das auch nicht gegeben. Es hat nur das gegeben, was auch zu erzählen ist. Genauso verhält es sich ja auch im Einzelhandel, wenn man nach etwas fragt, was der Laden unter Garantie schon immer hatte, hört man doch immer wieder gerne: „Ham wa nich.“ In der Stimme liegt dann eine solche Überheblichkeit und es wird einem unvermittelt damit gesagt, dass es das auch hier nie gegeben hat. Noch nie. Und dann wird man einfach stehen gelassen. Schließlich sieht das Verkaufspersonal seine Aufgabe darin, Kunden zu bedienen und nicht Anteilnahme am unvollständigen Sortiment zu zeigen.

Vor Jahren wollte ich einem Freund einmal die Stasizentrale in der Normannenstraße zeigen. Sicherheitshalber fragte ich eine ältere Dame, die mit ihrem Fahrrad gerade an unserem Wagen vorbeikam. „War hier nicht die Stasi?“ Sie schaute mich argwöhnisch an: „Stasi hat es hier nie gegeben.“ Ahnungslos standen wir bereits vor dem Haus.

Der Ostberliner ist da überhaupt eher von bürokratischer Natur, wenn man ihn vor Ort nach historischen Begebenheit fragt und keine Antwort weiß: Das ist mir nicht bekannt. Oder auf die rhetorische Frage, ob es hier, an dieser Stelle, tatsächlich Mauertote gegeben habe, man zur Antwort bekommt: „Das ist nicht korrekt.“ In jedem Berliner mit zurückhaltender, eher distinguierter Schnauze steckt ein penetranter Oberstudienrat. Natürlich hatte es an diesem Ort ein Gemetzel gegeben. Nur hätte ich es anders formulieren müssen und die „Flüchtlinge“ als „Grenzübertreter“ bezeichnen sollen. Grüß Gott, Hohenschönhausen! Herzlich willkommen in Nordkorea!

Als ich neulich mit dem Haasler Uli im „Goldapfel“ in der Heinrich-Roller-Straße saß, starrten wir über die sonnendurchflutete Straße auf das gegenüberliegende Friedhofstor, das mit schweren Ketten verschlossen war. Der verwunschene Gottesacker dahinter ließ sich hinter den hohen Mauern nur ahnen. „Lass uns da mal hingehen, da liegt Horst Wessel begraben. Ich habe auf Wikipedia gelesen, dass das Grab aber von einem antifaschistischen Kommando geplündert wurde und seine Knochen in die Spree geworfen wurde.“ Ja, Johannes Gross hatte schon recht, als er vor zwanzig Jahren lakonisch bemerkte, nach `45 sei die Zahl der Hitler-Gegner sprunghaft angestiegen.

Horst Wessel selbst war ein Nazi der ersten Stunde, Hitler als Reichskanzler erlebte er indes nicht mehr. Am 23. Februar 1930 starb er, nach dem er sechs Wochen zuvor als SA-Truppführer in Friedrichshain in seiner Wohnung in der Frankfurter Straße angeschossen worden war. Bis heute ist nicht geklärt, warum es das Attentat gab. Ob er Opfer eines Zuhälterkrieges oder aber eines kommunistischen Anschlags wurde, ist ungeklärt. Beide Versionen sind möglich. Wessel war der NS-Märtyrer schlechthin: Pastorensohn, dazu künstlerisch begabt – mit “Die Fahne hoch“, dem sogenannten Horst-Wessel-Lied, schrieb er die Parteihymne – sogar sportlich, und jung starb er.

Googlet man heute nach Fotos von Wessel, blickt man in ein etwas pausbäckiges, vorlautes Gymnasiastengesicht, nur zu leicht vorstellbar ist es, dass dieses Gesicht mit spitzem Mund an der Rampe von Auschwitz wie Mengele Verdi-Arien gepfiffen hätte, während er die Vorübergehenden selektierte. So wurden in einer Stunde mehrere Tausend Menschen in die Gaskammer getrieben bzw. für medizinische Forschungen, vor allem für den perversen Humbug der Zwillingsforschung, ausgewählt.

In Wien habe ich selbst vor Jahren die inzwischen verstorbene Ella Maria Lingens getroffen, die immer mit ihrer Zugehfrau in der Universitätsbuchhandlung Gerold einkaufte, in der ich mir als Assistent der studentischen Hilfskraft ein Zubrot verdiente. Lingens war Jüdin und Ärztin in Auschwitz auf der Häftlingsseite. In diesem enormen Grauen orderte Mengele, wie sie mir erzählte, sie immer wieder in sein Büro, um mit ihr wissenschaftlich über seine Forschungen zu debattieren. Er vergaß, dass sie Jüdin war. Hier war sie die geschätzte Kollegin. Immer wenn sie die Buchhandlung nach einer knappen halben Stunde verließ, flüsterte sie mir jedes Mal zu, ich solle mich vorsehen, denn „Buchhändlerinnen seien imma schiach, aber hier san se ganz besonders schiach.“ Also nicht nur hässlich, sondern fürchterlich. Zu leicht könne man der Buchhändlerinnengutmütigkeit auf den Leim gehen. Sei man erst einmal gefangen, bliebe man es lebenslänglich. Ich solle also auf der Hut sein.

Ich blieb es natürlich und so sah ich mich rund fünfzehn Jahre später also mit dem Haasler Uli hier von Grab zu Grab schleichen. Hin und wieder fotografierten wir einen der Engel, die von im Sonnenlicht glänzenden Spinnenweben und stiller Vergänglichkeitsaura umflort waren, bis sich plötzlich uns ein kleinerer Mann, in sehr kurzer, gemächtebetonender Hose und einem Unterhemd in den Weg stellte. „Was machn Se hier?“ wollte er barsch wissen. Klar, in jedem Berliner steckt der Ordnungshüter. Sein Haar war gefärbt, die Schläfen grau, der Schnäuzer mächtig. Durch die Baumwipfel sah man den schönen Himmel, von dem ich nun das Blaue log: „Wir haben eine Arbeitsgemeinschaft... .“ Und ich kam mir plötzlich wie ein SPD-Ortsvereinvorsitzender vor und fuhr fort: „... und untersuchen die Berliner Friedhofskultur, die wir dokumentieren. Warum fragen Sie denn?“ „Na, ich beobachte Sie schon die janze Zeit. Da habe ich mir jedacht, frag se mal, was die hier wolln. Wissn Se, man hat mir hier schon meine zweete Bank jeklaut und mit nem Rad fahren se auch hier durch. Det is so wat von pietätlos.“ Dann entdeckte ich auch den Ordungshüter in mir und fragte: „Und wie ist das mit Hunden?“ Der Mann schaute mich an: „Meena is ja friedlich, hab ick immer anjeleint, pinkelt uff kenn Grab, is ja och nen janz kleener, wa.“ Ich schaute ihn streng an und sagte: „Wir suchen das Grab von Horst Wessel und finden es nicht. Verstehen Sie, Wessel war ein alter Nazi, ist aber jung gestorben. 1930. Wissen Sie vielleicht, wo das sein könnte?“ „Dit jibst hier nich, dat wüsst ick. Meene Mudda is hier vor zwei Jahrn zu liegen gekommen, wa. Danach war nüscht, janz bestimmt.“

Wir haben den Mann, dessen Mutter hier zu liegen gekommen war, mit ein paar freundlichen Worten stehen gelassen. Wir dachten nur mal wieder: „Typisch, wes ick nich, jibs nich.“ Klarer Fall: Das ist Berlin!











Sonntag, 9. August 2009

Eine Todesanzeige verzaubert die Welt

Im Januar dieses Jahres erschien in der BERLINER MORGENPOST als auch im TAGESSPIEGEL die Todesanzeige von Fred Gerstle, der mit 82 Jahren in Lichterfelde gestorben war. Die fast handgroße Mitteilung war die markante Duftmarke, die Gerstle dem Zeitungsleser hinterlassen wollte und gerade noch hinreichend genug, dem Urheber selbst auf die Spur zu kommen. Die von Gerstle selbst mit dem jüdischen Davidstern unterzeichnete Anzeige begann mit einem Zitat von Martin Buber, als diene es zweifelsohne als hinreichende Selbsterklärung Gerstles. „Es gibt Menschen, die leiden furchtbare Not und können nicht erzählen, was in ihrem Herzen ist, und sie gehen einher, voll der Not. Kommt ihnen da einer entgegen mit lachendem Angesicht, er vermag sie zu beleben mit seiner Freude.“

Gerstle zitierte Bubers „Mythische Weisheiten, Worte des Rabbi Nachman“ weiter und dankt seinen Freunden und Bekannten mit dem Satz: „Und das ist kein geringes Ding, einen Menschen zu beleben.“ Und er erklärt auch gleich warum: „Nach den Nürnberger Gesetzen als Mischling 1. Grades geltend, bin ich stets ein Wanderer zwischen dem Judentum und allen anderen Religionen geblieben, besser gesagt, habe ich zum Gott aller Richtungen gefunden. Sozusagen ein Weltbürger des Glaubens.“ Er hatte vielleicht seinen Glauben wiedergefunden, denn er schrieb, dass die „Vielzahl an positiven Fügungen während meines irdischen Daseins, die mich stets, mehrfach als Einzigen, in Extremsituationen überleben ließen, kann in dieser Häufung kein Zufall mehr gewesen sein.“

Nun blieb ihm „als Letzter meiner Sippe“ eben „nur noch die ehrenvolle Pflicht, mich im eigenen Namen und dem aller meiner Vorfahren endgültig von dieser Welt zu verabschieden“. Zur Trauerfeier bat er, in Weiß zu erscheinen. Es sollte Blues gespielt und Weisheiten von Martin Buber vorgetragen werden. Die Todesanzeige endete mit dem Satz, der ein Grab zum seelischen Point of View machte: „Diejenigen, auch wenn sie keine Friedhofsgänger sein sollten, welche mich vielleicht doch einmal auf dem Erdbegräbnis der Familie Gerstle aufsuchen sollten, werden auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee, Herbert-Baum-Straße, Feld K 5, einen Ort der Stille und Harmonie vorfinden.“

Die ausgerissene Todesanzeige habe ich Monate lang bei mir getragen. Gestern war ich dort. Gerstle hatte recht. Es ist ein Ort der Stille und Harmonie. Hier erntet die Melancholie des Besuchers die satte Zufriedenheit des Augenblicks. Ja, das ist wahrhaft nicht gering. Berlin hat ein klitzekleines neues Naherholungsgebiet bekommen. Und keiner weiß es. Gott sei Dank. Da kann man nur sagen: Das ist Berlin!